Wiederkehrende Wege. Hier die Sim, dort der Broadway. Wie oft bin ich über den Asphalt, über das Kopfsteinpflaster der beiden Straßen gelaufen, vom Times Square ins Financial District, von der Paulinstraße zum Hauptmarkt. Durch Fußgängerzonen, weil ein Taxi zu umständlich, durch Straßenschluchten, weil keines zu bekommen war. Mitten durch die Stadt. Mitten durch die Menge. Hier wie da. Wiederkehrende Wege. Sich gleichende Wege. Am Wegesrand Sehenswürdigkeiten, Kaufhäuser, Restaurants. Dreikönigshaus, Flat Iron Building, Banana Republic, Karstadt, Römergrill, The Bagdad Deli. Durch die Provinzstadt an einem Vormittag im September, durch den Big Apple an einem Nachmittag im Oktober. Nächte durchgetanzt, hier wie da, hüben wie drüben, diesseits und jenseits. Auch wenn aus den Boxen die gleiche Musik klang, der Rhythmus war in Manhattan ein anderer, der Beat ging am Hudson mehrere Herzschläge schneller, die Töne um den Central Park schriller. Man blieb nicht stehen, um das Empire State Building in seiner ganzen Wucht zu bewundern, man hält aber inne, um den Pathos der Porta Nigra zu berühren.
Trier kannte niemand, New York wollten alle. Ich wohnte in der Dreiundzwanzigsten, Ecke Achte, Chelsea. Schräg gegenüber dem gleichnamigen Hotel. An der Ecke ein chinesischer Händler mit allumfassenden Warenangebot und niemals schließenden Öffnungszeiten. Gleich nebenan der spelunkenhafte Einstieg in die Sub, die mich jeden Morgen zur Fifth Avenue brachte. Mein Büro war im 36. Stockwerk mit dem besten Blick auf St.-Patricks-Cathedral. Gegen zwei am Nachmittag war die allentscheidende Frage nach der Abendgestaltung unausweichlich: Welcher Club hat aufgemacht, gibt es bei Lucky Chang einen Tisch, was zieht man in die Gold Bar an, muss sich überhaupt neu eingekleidet werden, gibt es eine Vernissage als Schaulaufen aller interessanter Menschen in dieser Stadt, oder eine Broadway-Charity, auf der Vanessa Williams für die Aidshilfe küsst, und wie schaffe ich es, eine Einladung in die Webster Hall zu ergattern, um mir zwischen den Beinen von Tabledance-Ladys hindurch und über Stripboys hinweg Die Blechtrommel anschauen zu dürfen? Die Antworten mussten bis elf Uhr gegeben sein, denn sonst war die Nacht gelaufen und es blieb Fernsehen on demand als letzter Ausweg. Zwanzig Dollar Eintritt in fast jeden Club, Jägermeister für sechs Dollar aufwärts, die Flasche 92er QbA von Dr. Wagner aus Saarburg kostete 17 Dollar im Liquor um die Ecke, in die Papiertüte und hoch hinaus auf das Dach des World Trade Centers, um dabei zu sein, wenn die Großstadt zu Füßen ihre Lichter anmachte und einem für einen kurzen Augenblick die Gewissheit gab, der Stiel des Big Apples zu sein. Wenn alle Stricke rissen, hieß es Call 1-800-Roberta, die Barfrau, die wohl mit jedem Türsteher der Stadt geschlafen hatte, was schlichtweg niemanden interessierte, und jeden Code für jede Party kannte. DeeeLite röhrte auf Hochhausdächern, man führte in der Abendsonne seinen Alligator Gassi an der Strass besetzten Leine, soviel Stil muss sein, und eine Trillerpfeife ersetzt den mühsamen Pfiff nach einem Taxi, so viel Laut musste sein. Am Wochenende war es die schwierige Frage, ob nach Long Island, in die Hamptons oder nach Miami. New York vibrierte wie keine andere Stadt. Man hatte den Aidsschock überwunden und frönte in einem kollektiven Hedonismus mit einer allabendlichen Clapping Crowd von 17 Millionen leicht zu begeisternden Menschen.
Südbad, Nordbad, Stadtbad. In der Provinz gab es weniger Alternativen am Wochenende oder am Wochentag. Eine Kneipe am Pferdemarkt, in der man auf einen Blick alle Bekannten und alle Seelenverwandten traf, sprach und gehört hatte. Spätestens um elf waren alle Geschichten erzählt. War klar, wer mit wem in welcher Konstellation geschlafen hatte und welche Verwicklungen sich daraus ergeben werden. Seit halb sieben waren die Läden dicht, da ließ sich auch keine Hettlage-Verkäuferin erweichen. „Gibet nit, han ma nit, kommt auch net mehr rein“, die Sätze, die zwischen Sein und Dasein unterschieden, zwischen großer, weiter Welt und Moselstrand Grenzen zogen. Das Theater mühte sich durch drittklassiges Dreispartentum und versuchte sich in einem abgesetzten 42nd-Street-Musical. Das Leben war unaufgeregt, beschaulich, gemütlich, eingerichtet wie ein deutsches Wohnzimmer, in dem die Schrankwand seit Jahren an der gleichen Stelle steht und das Sofakissen als Inbegriff aller Innovation, aller Progressivität, aller Verruchtheit und allen Verrücktseins ohne Handkantenschlag auskommen muss. Dampfende Gullydeckel gibt es nicht, die Straßen sind sauber geleckt, die Zebrastreifen wohl abgezirkelt, man stritt sich über eine langweilige Ansammlung von Bäumen auf einem unansehnlichen Parkplatz inmitten der Stadt und glaubte mitunter selbst daran, der Nabel der Welt zu sein, wenn nicht der Welt, dann doch mindestens der Galaxie, und wenn es dort zu eng war, dann zumindest der Mittelpunkt des Universums und wenn das nicht ausreichte, blieb noch immer das Moselland, das liebliche Moselland, mit all seinen sanften Hügeln, seinen grünen Tälern, seinen Fernsichten und seinen Naheinstellungen. Ein jeder war ein Prinz in der Provinz – nur dass dies niemanden interessierte. Und mittendrin eine Stadt, die sich mit Verweisen auf imperiale Vergangenheit gegen jeden Zeitgeist stemmte, eine Stadt, die sich lasziv zurücklehnte, um alle Trends zu verpassen, eine Stadt, die vom Jetset träumte und nie verwandt, dass sie auf einem Eifelacker gelandet war. Damals.
Heute. Ich habe mich lange dagegen gesträubt, nach dem Elften September in die Stadt zwischen Hudson und East River zu reisen, so sehr, wie ich mich dagegen sträube, in die Stadt am Moselstrand zurückzukehren. Die Neugierde obsiegt hin und wieder. Heute. Jenseits eines Meeres haben die Trümmer der Zwillingstürme den Beat der Stadt unter sich begraben, den Rhythmus zugeschüttet, Himmel stürmende Kreativität nivelliert, eingeebnet. Rauch, Ruß, Schutt, Schatten. Die Stadt röchelt den klaustrophobischen Klang einer Beatmungsmaschine, liegt in Agonie, frönt in Paranoia und verweigert sich einer Therapie. Aus übertriebenem Sicherheitswahn legt sich jeder New Yorker einen Hund zu, besser noch zwei. Am Nachmittag geht man mit ihnen Gassi zum Union Square oder an einen anderen Platz, wo die Stadt ein Hundegehege abgetrennt hat. Auslauf. Zehn mal zehn Meter, mehr gibt es nicht. Mehr braucht es nicht. Die Köter verbringen die Minuten fickend, bis Herrchen sie wieder durch den Asphaltdschungel nach Hause bringen, wo sie kläffend, bellend und jaulend den Abend beginnen. Geheule einer geschundenen Stadt. Die Abende und Nächte sind lang geworden in New York, nachdem das neue Stadtoberhaupt am letzten Märzsonntag dieses Jahres das Rauchen in den Clubs, Pubs und Bars verbot. Seitdem stehen die Menschen vor den Gaststätten und verstopfen den Gehsteig, verwenden ihre Kreativität auf das Dochrauchen und nicht auf neue Trends und neue Stile. Im Max Fish südlich der Houston Street trifft man sich zum Billardspiel in steriler Luft, wenige Ecken weiter das Matrix, in dem eine Band spielt. Das Publikum steht stocksteif, seit dem nach einer neuen Idee des Stadtvaters das Tanzen nur noch in ausgewiesenen Clubs mit einer Lizenz für Tanzveranstaltungen erlaubt ist. Die Jugend ertränkt sich mit stumpfen Blicken und flüchtet ins Shoppen, Flipflops mit Pfennigabsatz, FCUK-T-Shirts mit sinnentleerten Sprüchen oder anderen Designerklamotten. Konsum ist ungefährlich, Konsum ist erlaubt, Konsum ist clean. So sind auch die Kinder von New York, die sich nicht einmal dagegen wehren, dass der Bürgermeister sie auffrisst und die Metropole in die schlimmste aller Provinzen verbannt, die geistige, die kreative, die verharrende, die still stehende.
Lucky Chang ist ein Touritempel geworden, die Gold Bar hat im Januar für immer geschlossen, das Empire State Building lässt sich Aufzugfahrten zum Wolkenkratzerdach teuer bezahlen, Clubbesuche sind Stehveranstaltungen im Freien geworden. Der Mann mit dem Alligator gilt als apokalyptischer Reiter noch depressiverer Zeiten. Im deutschen Fernsehen laufen schlecht synchronisierte Fernsehserien, die einer Retrospektive New Yorks vor Michael Bloomberg und dem Elften September gleichen. Die Stadt ist auf ein halbstündiges Fernsehformat geschrumpft, das beweist, dass Provinzialität machbar ist, an jedem Ort zu jeder Zeit, in jedem Universum, in jeder Galaxie, auf jeder Eifelscholle, an jedem Hudsonstrand. Nun ist die Stadt auf der Flucht vor sich selbst. New York erinnert an einen großen Apfel in Luftball-Design, aus dem die Luft gelassen wurde. Und Trier bestaunt ungläubig die Trümmer der eigenen Vergangenheit, die sich in jedem Winkel der Stadt auftürmt, unter jedem Pflaster der Stadt pocht, in jeder Straße der Stadt ihr Echo sucht. Vergebens.
Melancholie. Aus der Weltlosigkeit in der Welten Mittelpunkt: Vor zehn Jahren zog es mich in ein Appartement mit Gartenblick schräg gegenüber vom Chelsea Hotel. Unzählige Nächte schlief ich im Getöse der Großstadt. Reprise: Vor einem Jahr schlief ich in der Norfolk Street südlich der Houston. Das Fenster zu einem Lüftungsschacht. In Trier habe ich wohl die meisten Stunden meines Lebens verbracht, obwohl ich in der Stadt nur eine einzige, eine einzelne, eine kurze Nacht geschlafen habe. Südallee Ecke Friedrich-Wilhelm-Straße. Die Fenster nach Westen mit Blick auf die Barbarathermen, nach Norden hinaus auf die mitleidige Kulisse einer Provinzstadt. Der Wecker klingelte hier wie da gleich. Am Morgen. Laut und schrill.
theobalds_schrift - 16. Oktober, 22:39